„Die wichtigste Währung ist Vertrauen“
Maren Urner, Neurowissenschaftlerin und Professorin für nachhaltige Transformation an der FH Münster, ist überzeugt: Konstruktiver Journalismus ist mehr als eine neue Erzählform. Er ist ein entscheidender Schlüssel für unsere mentale Gesundheit und eine Notwendigkeit für die Zukunft des Journalismus.
- von Andrea Gourd, Berlin
- 03.09.2024, 13:23 Uhr
- 2 Kapitel, 4 min Lesezeit
- Zur Kurzfassung des Artikels
Maren Urner plädiert für eine Berichterstattung, die nicht nur Probleme aufzeigt, sondern auch Lösungen anbietet. Das 2016 von ihr mitgegründete Online-Magazin „Perspective Daily“ war eines der ersten deutschsprachigen Medien, das konsequent das Konzept eines solchen konstruktiven Journalismus verfolgt. Das Ziel: Nicht nur eine fundierte und faktenbasierte Berichterstattung zu bieten, sondern auch Lösungen für die in den Artikeln behandelten Probleme aufzuzeigen.
Im Interview beschreibt Urner, wie Redaktionen diesen Ansatz in die Praxis umsetzen können – und damit nicht nur das Vertrauen ihrer Leserinnen und Leser stärken, sondern auch deren Handlungsfähigkeit fördern.
Jede Informationsverarbeitung verändert unser Gehirn
Frau Urner, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit der Frage, wie die mediale Berichterstattung auf Menschen wirkt und was sie emotional mit ihnen macht. Was sind kurz zusammengefasst Ihre Erkenntnisse?
Die wichtigste Erkenntnis aus meiner Sicht ist, dass jede Informationsverarbeitung – und damit jede Schlagzeile und jeder Beitrag – unser Gehirn verändert. Wir sind nicht die objektiven Informationsverarbeiter, für die wir uns gern halten. Dementsprechend kann es auch keinen rein objektiven Journalismus geben, der lediglich eine Information weiterträgt. Die gleiche Überschrift und dasselbe Bild lösen in zwei Menschen unterschiedliche Reaktionen und Emotionen aus. Der Mix daraus ist bestimmt durch unsere individuelle Biologie und unsere bisherigen Erfahrungen. Dieses Grundverständnis des menschlichen Daseins anzuerkennen ist aus meiner Sicht grundlegend für einen verantwortungsvollen und zukunftsfähigen Journalismus.
Sie plädieren für „Konstruktiven Journalismus“. Was bedeutet dieser Ansatz?
Anknüpfend an die vorherige Frage, nimmt Konstruktiver Journalismus eben diese Erkenntnis ernst und stellt sich den daraus resultierenden Herausforderungen für die Medienbranche. Im Kern des konstruktiven Ansatzes steht die Frage: „Was jetzt?“. Denke ich diese Frage als Medienschaffender stets mit, gehe ich anders an meine Berichterstattung heran. Ich stelle andere Fragen, bilde anders ab, ordne ein und stelle Grautöne dar. Im Grunde ist Konstruktiver Journalismus nichts anderes als „guter Journalismus“, der seiner Kernaufgabe möglichst gerecht wird: Menschen über die Welt zu informieren und handlungsfähig zurückzulassen.
Wie kann Konstruktiver Journalismus im Alltag einer Lokalredaktion umgesetzt werden? Konkret: Welche praktischen Schritte können Redakteure und Redakteurinnen unternehmen, um konstruktive Elemente in ihre Berichterstattung einzubauen?
Der konstruktive Ansatz zieht sich durch alle journalistischen Aufgaben und beginnt entsprechend bei der Themenwahl. Hier gilt es zu fragen: Wie relevant ist ein mögliches Thema für die Menschen, die wir erreichen wollen? Wo betrifft es sie in ihrem Lebensalltag? Bei der Auswahl der Quellen und Interviewpartner geht es darum, solche zu finden, die eine echte Expertise haben und tiefergehende Fragen beantworten können. Dafür ist eine entsprechende Fachkenntnis bei den Journalistinnen und Journalisten natürlich hilfreich. „Klassische“ konstruktive Fragen sind Konkretisierungen der „Was jetzt?“-Frage. Also bezogen auf eine vertrackte Situation im Lokalen: Was erwarten Sie von der anderen Seite, Partei oder Unternehmen? Was benötigen Sie, um den Konflikt auflösen zu können? Was hat Ihnen in der Vergangenheit geholfen?
„Es gibt keinen rein objektiven Journalismus, der lediglich eine Information weiterträgt.“
Negative Nachrichten machen hilflos
Konstruktiver Journalismus wird oft als Antwort auf Nachrichtenvermeidung und Politikverdrossenheit gesehen. Inwieweit glauben Sie, dass ein lösungsorientierter Ansatz tatsächlich helfen kann, diesen gesellschaftlichen Phänomenen entgegenzuwirken?
Nachrichtenvermeidung ist ein Phänomen, das in der nahen Vergangenheit stark zugenommen hat und sich in den letzten Jahren (siehe Digital News Report) konstant auf einem hohen Niveau befindet. Zu den häufigsten Gründen, Nachrichten gelegentlich bis häufig zu vermeiden, gehört die Negativität dieser und das Fehlen von Lösungsansätzen. Aus der Psychologie und den Neurowissenschaften wissen wir, dass aus dieser Wahrnehmung eine erlernte Hilflosigkeit entstehen kann. Sprich, die Überzeugung, durch das eigene Handeln nichts ausrichten zu können. Das ist Gift für eine Demokratie. Die Ergebnisse erster Studien zeigen, dass konstruktive Berichterstattung dem entgegenwirken kann. Vor allem dadurch, dass sie die Gegenspielerin der Hilflosigkeit vermittelt: Selbstwirksamkeit. So landen wir wieder bei Frage eins und dem Mythos einer rein objektiven Berichterstattung.
Glauben Sie, dass Verlage und Digitalpublisher mit Konstruktivem Journalismus eine stärkere Leserbindung erreichen können? Haben Sie Beispiele oder Studien, die dies belegen?
Ja, davon bin ich sowohl auf Basis der Forschungsergebnisse aus meinen Feldern als auch der ersten Ergebnisse aus den Kommunikationswissenschaften überzeugt. Die wichtigste Währung für menschliche Beziehungen ist Vertrauen. Das gilt auch für die Beziehung zwischen Rezipienten und Medienschaffenden. Der konstruktive Ansatz beinhaltet auch eine Kommunikation auf Augenhöhe, die einschließt, eigene Grenzen und Fehler anzuerkennen. Das ist neben dem lösungsorientierten Blick nach vorn eine wichtige Zutat, um Vertrauen zu generieren und zu erhalten.