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© Institut für Informations-, Telekommunikations und Medienrecht Universität Münster

„Es ist eine Illusion zu glauben, dass mutige und ausgebildete Journalisten die Demokratie alleine verteidigen können.“

Prof. Dr. habil Gabor Polyák ist Direktor des Instituts für Kunsttheorie und Medienwissenschaft und ordentlicher Professor für Medienrecht und Medienpolitik an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest (ELTE, Ungarn). Er forscht seit über 20 Jahren in den Bereichen Medienregulierung und -ethik und Medienökonomie und gilt als einer der Experten für europäische Mediensysteme.

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Lage der Pressefreiheit in Europa

BDZV: Wie sehen Sie die aktuelle Lage der Presse- und Medienfreiheit in Europa? Welche Gefahren sehen Sie für die Freiheit und Unabhängigkeit der Medien in Deutschland und der EU?

Polyák: Betrachtet man die Situation der Pressefreiheit in Europa allgemein, so ergibt sich ein recht ermutigendes Gesamtbild. Neun der zehn führenden Länder im Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen sind europäische Länder, und zwanzig der EU-Mitgliedstaaten befinden sich unter den ersten fünfzig. In den meisten der Länder, die der Europäischen Union beigetreten sind, hat sich die Situation der Pressefreiheit seit dem Beitritt verbessert. Jeder dieser Fälle ist eine ernste Tragödie, aber gewalttätige Angriffe auf Journalisten sind eher die Ausnahme als die Regel. Die „öffentlich-rechtlichen Medien“ als (west-)europäische Errungenschaft bleiben eine wichtige Arena für einen sinnvollen Dialog.

Es gibt jedoch gravierende Ausnahmen und globale Krisen, von denen auch Europa nicht ausgenommen ist. Das Vertrauen in Journalisten nimmt weltweit ab, stabile Medienmärkte und vorhersehbare Vertriebsmodelle für Qualitätsjournalismus sind verschwunden, soziale Medien prägen die Verfügbarkeit öffentlicher Nachrichten auf völlig willkürliche Weise, junge Menschen wenden sich nicht nur von den öffentlich-rechtlichen Medien, sondern zunehmend auch von allen traditionellen Medien ab, und Politiker wollen sich zunehmend über soziale Medien direkt an die Wähler wenden, ohne von Fragen der Journalisten unterbrochen zu werden. In einigen europäischen Ländern werden diese globalen Symptome durch spezifische Probleme verstärkt.

11.11.2022 Haus der Bundespressekonferenz, Berlin Medienvielfalt und kommunikative Chancengleichheit zwischen dualer Rundfunkordnung und digitaler Plattformökonomie, Symposium anlässlich des 25-jährigen Bestehens der öffentlich-rechtlichen Abteilung des Instituts für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht an der Universität Münster © Institut für Informations-, Telekommunikations und Medienrecht Universität Münster

Populismus und dessen Auswirkungen auf die Medienfreiheit

Welche sind das?

In Ungarn, Bulgarien und Griechenland zum Beispiel stagnieren der politische Druck und die politische Einmischung in die Medien weitgehend. In Polen scheint die Pressefreiheit im europäischen Sinne in absehbarer Zeit wiederhergestellt zu werden, aber das polnische Beispiel zeigt auch, wie schwierig es ist, die einmal abgeschaffte Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit wiederherzustellen. Populistische Politiker greifen überall die Presse an, leugnen, dass Vielfalt ein Wert ist und kommunizieren mit Feindseligkeit und Hass statt mit Argumenten.

Nur in Ungarn und Polen ist eine solche politische Kraft dauerhaft an der Macht geblieben, aber in Slowenien, der Tschechischen Republik und zuletzt in der Slowakei hat sie es geschafft, für längere oder kürzere Zeit zu regieren. Aber die populistische Bedrohung ist nicht auf Osteuropa beschränkt: Der Sieg von Wilders in den Niederlanden, der Aufstieg der AfD in Deutschland, die großen Siegchancen der FPÖ in Österreich. Le Pens weitere Stärkung und sogar der Aufstieg radikaler Parteien in den nordischen Ländern sind alles Phänomene, die eine ständige Bedrohung für den freien, offenen und vielfältigen gesellschaftlichen Dialog und den kritischen und hochwertigen Journalismus darstellen. Wenn deutsche Journalisten physisch belästigt werden, weil sie bei einer Demonstration ihre Arbeit machen, hat ganz Europa Grund zur Sorge.

Wie steht Europa im internationalen Vergleich da?

Der Zustand der Medienfreiheit in Europa hängt im Wesentlichen davon ab, inwieweit die europäischen Bürger an die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit glauben, und dies wiederum hängt im Wesentlichen davon ab, inwieweit die demokratischen Parteien in der Lage sind, Antworten auf Fragen zu geben, die den Wählern am Herzen liegen. Wenn populistische Kräfte die Kontrolle übernehmen, werden Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unweigerlich geschwächt, und auch die Pressefreiheit ist davon betroffen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass mutige und ausgebildete Journalisten die Demokratie alleine verteidigen können.

Populismus ist also eine Gefahr für den Journalismus?

Die bisherigen Beispiele aus dem Populismus zeigen deutlich, dass Qualitätsjournalismus nur dann Einfluss auf gesellschaftliche und politische Prozesse nehmen kann, wenn es die Möglichkeit eines sinnvollen Dialogs gibt und die grundlegenden Institutionen der Rechtsstaatlichkeit vorhanden sind. Es ist kein Zufall, dass kritischer Journalismus eines der ersten Ziele populistischer Politik ist und dass das Hauptziel populistischer Medienpolitik darin besteht, die Öffentlichkeit zu polarisieren und eine Kaste von Wählern zu schaffen, die nicht miteinander kommunizieren können. Es ist auch kein Zufall, dass der Populismus die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit, die auch den Journalismus schützt, nicht toleriert.

Die Frage ist also, ob die europäische Demokratie und die traditionellen europäischen Parteien noch den Weg zu den europäischen Wählern finden und bei den Wahlen ein überzeugendes Angebot machen können. Die Pressefreiheit in Europa ist dort und solange sicher, wie populistische politische Kräfte nicht auf dem Vormarsch sind. Die Situation der Pressefreiheit kann nicht isoliert betrachtet werden. Selbst wenn wir also sehen, dass Europa in Bezug auf die Rangliste der Pressefreiheit die glücklichste Hälfte der Welt ist, müssen wir auch sehen, dass es ernsthafte Risse in den Mauern der europäischen Demokratie gibt.

Einfluss des EU-Medienfreiheitsgesetzes auf die Pressefreiheit

Das jüngst verabschiedete EU-Medienfreiheitsgesetz (EMFA) soll die Freiheit und Unabhängigkeit der Medien in Europa bewahren. Was ändert sich durch das Gesetz? Und wird es die Lage der Medien in Deutschland und der EU verbessern?

Der EMFA ist ein mutiges Experiment der EU, jedenfalls in dem Sinne, dass sich die EU auf ein Gebiet begibt, das sie bisher noch nicht betreten hat. Die Verordnung berührt viele Aspekte der Medienübertragung, von der Überwachung von Journalisten bis zur Transparenz des Medieneigentums, von der Messung der Einschaltquoten bis zu Beschränkungen der Medienkonzentration, von der Regulierung der Organisation öffentlich-rechtlicher Medien bis zur öffentlichen Werbung.  Doch weniger wäre in diesem Fall vielleicht mehr gewesen. Die meisten Vorschriften sind oberflächlich, die Durchsetzungsverfahren und Rechtsfolgen sind unklar, und der Spielraum für die nationalen Gesetzgeber ist sehr groß.

Warum?

Die Regeln sind wie ein Lehrbuch für Medienrecht aus dem Westeuropa der 1990er Jahre. Weder geht sie in ausreichendem Maße auf die Krise der traditionellen Medien und des damit verbundenen Journalismus ein, noch auf die Tatsache, dass westliche Konzepte in Osteuropa etwas anderes bedeuten. Obwohl der Text der EMFA viel besser ist als die erste Version, denke ich immer noch, dass er aus ungarischer Sicht zu viel für andere und zu wenig für uns ist. In gut funktionierenden Mediensystemen stellt er eine schwer zu rechtfertigende regulatorische Belastung dar, während er eindeutig nicht in der Lage ist, die bereits ausgehöhlte Pressefreiheit wiederherzustellen. Für Ungarn wäre ein solches Gesetz schon vor 10 Jahren eine echte Hilfe gewesen. Seitdem hat die Politik den Medienmarkt vollständig übernommen, die Politiker haben sich daran gewöhnt, kritische Journalisten zu ignorieren, und die unabhängigen Medien haben sich daran gewöhnt, sich in einem Zustand permanenter Unsicherheit zu befinden. Wenn ich optimistisch sein soll, würde ich sagen, dass gerade die oben erwähnten aufstrebenden Populisten durch diese Gesetzgebung behindert werden könnten. Fico, Kickl, Le Pen können die Medien nicht mehr so unterdrücken, wie es Orban getan hat. Leider hat Ungarn das Know-how mitgebracht, und es bleibt zu hoffen, dass es auch in anderen Ländern genutzt wird. 

Ein Ziel des EMFA ist es politische Einflussnahme und die Vereinnahmung von Medien in der EU zu verhindern. Wird der EMFA das leisten können?

Leider stützt sich der EMFA weitgehend auf Instrumente, die nur unter demokratischen Bedingungen funktionieren können. Transparenz ist ein wirksames Instrument, solange die offengelegten Informationen eine politische Konsequenz haben. Grundsätze wie die Nichtdiskriminierung sind nur in einem System wirksam, in dem es noch echte Konkurrenten gibt und in dem die Politik die Bedeutung von Worten nicht willkürlich umdeutet. Die Autonomie der Journalisten kann nur so lange verteidigt werden, wie sie selbst die Autonomie nicht so verstehen, dass sie sich freiwillig in den Dienst der Regierung stellen. Obwohl die EMFA vorschreibt, dass die Leiter der öffentlich-rechtlichen Medien in einem offenen Wettbewerb ausgewählt werden sollen, wird nicht gesagt, wer die Entscheidung treffen soll. Leider sehe ich in der Verordnung keine feste Regel, die nicht von einer politischen Kraft, die dazu geneigt ist, umgangen werden kann. Zugleich möchte ich noch einmal betonen, dass die Verordnung den populistischen Wandel bremsen kann.

Was braucht es Ihrer Meinung nach zur Wahrung der Presse- und Meinungsfreiheit in Europa?

Ich fürchte, die Antwort aus Osteuropa ist nicht dieselbe wie die Antwort aus Westeuropa. Die ungarische Situation hätte durch starke europäische Regeln und Institutionen verbessert werden können, während die Medienmarktakteure in Westeuropa zu Recht keine weitere Regulierung wollen. In Westeuropa lohnt es sich auf jeden Fall, an der Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien zu arbeiten und einem möglichst breiten Publikum auf möglichst vielen Plattformen hochwertige Informationen zu liefern. In Osteuropa haben sich die öffentlich-rechtlichen Medien immer leicht in ein politisches Instrument für die Parteien an der Macht verwandeln lassen. Ich glaube, dass eine strenge europäische Regulierung der Plattformen ein sehr guter Schritt ist, da dies ein gemeinsames, gesamteuropäisches Interesse ist.

Die EU hat in diesem Bereich jüngst einige Gesetze erlassen …

Nach den Lösungen der EU in den Bereichen Datenschutz, Wettbewerbsrecht und Urheberrecht haben der Digital Services Act und der Digital Markets Act sowie jüngst der AI Act das regulatorische Sicherheitsnetz weiter gestärkt, das sowohl die soziale Kommunikation als auch den journalistischen Berufsstand vor der Willkür der Plattformen schützt. Es bleibt natürlich abzuwarten, wie diese regulatorischen Lösungen in der Praxis umgesetzt werden. Mehr noch als an die Regulierung glaube ich an die Bildung. Medienkompetenz und digitale Kompetenz sind leider wieder einmal ein demokratischer Luxus, der z.B. im ungarischen Bildungssystem in den letzten Jahren fast völlig verschwunden ist. Die Betonung des kritischen Denkens, der Debatte und der Argumentation oder auch der wirtschaftlichen und politischen Beweggründe des Mediensystems wird jedoch dazu beitragen, das Immunsystem der Gesellschaft langfristig zu stärken. Traditionelle Medienunternehmen und Journalisten, die in der Tat ums Überleben kämpfen, spielen dabei eine große Rolle: Wenn sie der Gesellschaft verständlich machen können, warum der Facebook-Post des Nachbarn nicht dasselbe ist wie der investigative Artikel des Journalisten, dann arbeiten sie nicht nur an der Rettung der Demokratie, sondern dienen auch ihren eigenen Geschäftsinteressen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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