Endlevel Hass
Rainer Winkler alias Drachenlord ist einer der kontroversesten Youtuber Deutschlands. Seit Jahren duelliert er sich mit einer Masse anonymer Gegner im Netz, der Konflikt vergiftet Kommentarspalten, Chatgruppen und ein ganzes Dorf. Sein Fall ist nicht der einzige – und bisher gibt es für den Hass kein Gegenmittel.
- von Julia Ruhnau
- 20.06.2022, 14:40 Uhr
- 6 Kapitel, 21 min Lesezeit
In dieser Geschichte wollen nur wenige Menschen ihren Namen teilen. Es geht nicht um geheime Dokumente oder kriminelle Banden, auch nicht um peinliche Ausrutscher. Aber die Leute haben Angst, dass der Hass wieder aufflammt.
Es ist der 11.11.2011, kurz vor elf Uhr, als Rainer Winkler seinen ersten Clip auf Youtube hochlädt. Es ist ein Headbang-Video, gefilmt mit der Computerkamera. Sein wallendes Haar schleudert er dabei zu einem Metal-Song durch die Gegend, Halo von Machine Head. „This is our time to fight“, Zeit zu kämpfen, heißt es gleich am Anfang. Und bizarrerweise ist es das, was Winkler in den kommenden Jahren tun wird, kämpfen, nur nicht aufgeben, auch wenn der Feind zahlenmäßig hoffnungslos überlegen ist.
Ein heißer Tag im Mai, Winkler, inzwischen 32, sieht aufgeräumt aus. Er ist frisch geduscht und trägt ein sauberes T-Shirt, als er über seine Youtube-Anfänge erzählt. Das ist deshalb erwähnenswert, weil er zuvor eher mit dem Gegenteil aufgefallen ist. Bei Gerichtsverhandlungen trug er fleckige und löchrige Klamotten, Jogginghose und Schlappen. Warum? „Weil das sonst nicht ich bin. Außerdem ist das mein Glücksbringer“, sagt er und meint damit ein verwaschenes Bandshirt, das er bei einem der Prozesse trug.
Vor wenigen Wochen hat das Landgericht Nürnberg-Fürth ihn wegen Beleidigung und Körperverletzung verurteilt, ein Jahr auf Bewährung. Er hatte mehrfach Menschen geschlagen, die ihn vor seinem Grundstück provozierten oder über seinen Hof stolperten, Polizisten Arbeitsverweigerer genannt. Vom Gericht hat er mehrere Auflagen bekommen, er muss einen Medienberater aufsuchen und zum Psychologen.
Ein psychiatrischer Gutachter hat ihm eine Anpassungsstörung diagnostiziert. Dazu gehören Zustände von „subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung“, die „soziale Funktionen“ behindern können, so steht es im Krankheitskatalog ICD-10. Winkler gilt deshalb nicht als voll steuerungsfähig, das wurde strafmildernd gewertet. Bei einem IQ-Test sei außerdem ein Wert von 85 gemessen worden, erzählt er. Das liegt gerade noch im Bereich durchschnittlicher Intelligenz.
Darüber hinaus ist er Legastheniker und kann sich Zahlen schlecht merken. Deswegen hat er sein erstes Video am 11.11. hochgeladen. „Zehn vor Elf, hat also gepasst“, sagt er. Man kann das leider nicht überprüfen, er hat den Clip versehentlich gelöscht, zusammen mit einer Menge anderer Videos.
Die Hater wollen, dass der Drachenlord aus dem Internet verschwindet
Wir sitzen an einem Tisch, während Winkler spricht, zwischen uns eine Dose Energy-Drink der Marke Monster. Der Ort des Treffens muss geheim bleiben, zu Winklers Schutz. In den Wochen zuvor ist er quer durch die Republik gejagt worden.
Denn es gibt Menschen, die wollen, dass er von der Bildfläche verschwindet. In seinem Fall heißt das: aus dem Internet.
Seine Gegner heißen Regenbogenschaf und Käferbande, Hagebuddne und der heilige Ofenkäse. Sie treten gegen den Drachenlord an, so nennt Winkler sich und seinen Kanal auf Youtube. Was ein wenig nach Kindergartengruppen klingt, ist der Abgrund der Netzwelt, der nicht überall gleich tief ist, aber trotzdem schwer zu überwinden.
Für Winklers Nachbarn wird seine Youtube-Karriere zu einem ländlichen Armageddon. Denn aus Scharmützeln in Chatrooms werden Massenaufläufe in der mittelfränkischen Provinz. Er und seine Hater bekriegen sich nicht nur im Netz, sondern immer öfter auch vor Winklers Haus. Und daran ist er nicht ganz unschuldig.
Paralleluniversum im Netz
Wer sich mit dem Drachenlord beschäftigt, stößt im Netz auf ein Paralleluniversum. Es gibt hunderte Videos über ihn, eine Chronik über sein Leben, ein Archiv, in dem Versessene alle Clips sammeln, die er veröffentlicht hat. Eine eigene Internetzeitung berichtet ausschließlich über sein Leben, jemand hat Bots programmiert, die registrieren, wann er auf welchen Plattformen aktiv ist. Man findet Fotos seines Führerscheins und seiner Krankenkassenkarte, ein Schulzeugnis, sämtliche Mailadressen, Telefonnummern und Benutzernamen seiner Accounts auf Twitter, Instagram, Tiktok, Pornhub. Es gibt sogar Videospiele über ihn.
In diesem Paralleluniversum bewegt sich eine anonyme, schwer zu fassende Masse, die in den vergangenen Jahren viel Schaden angerichtet hat. Nicht nur bei Winkler.
Wer Anfang des Jahres durch Altschauerberg läuft, ein winziges Dorf im westlichen Mittelfranken, etwa 40 Einwohner, muss mit Misstrauen rechnen. Die Polizei kontrolliert Passanten, Anwohner wollen den Presseausweis sehen. Ihre Telefonnummern stehen schon seit Jahren nicht mehr in öffentlichen Telefonbüchern. Zu lange war der Ort ein Schlachtfeld. Die Altschauerberger wollen sich schützen vor Telefonterror und Drohanrufen, vor den Fremden, die täglich aus Augsburg, Aalen, Berlin, der ganzen Republik hierher kommen und ihr Dorf in Beschlag nehmen.
Zwei Kilometer weiter, flussabwärts an der Mittleren Aurach entlang, liegt das Rote Herz. Ein hübsches Gasthaus in Emskirchen, bekannt für seine italienische Küche. Hier bekommt man cremiges Pistazieneis und den Grund dafür, warum viele Leute mit Rainer Winkler nichts zu tun haben wollen. Wirt Aldo Pometti hat wenig Zeit, aber zwischen Tür und Angel erfährt man doch, wie schnell Unbeteiligte ins Visier der Hater geraten.
Gefälschte Bestellungen und Telefonterror
Der Wirt hat Rainer Winkler in seinem Leben nur zwei Mal gesehen, und trotzdem hängt der Drachenlord wie ein Fluch über dem Fachwerkgebälk. Pomettis Restaurant wird mit Anrufen überschüttet, vorzugsweise nachts. Unbekannte bestellen Speisen, die nie bezahlt werden. Sie schreiben den Gasthof im Netz mit unterirdischen Rezensionen schlecht. Das schadet dem Betrieb wirtschaftlich, aber auch Pometti persönlich. Er sieht sich als „Hauptbetroffener“, neben Winklers Nachbarn. Und auch jetzt, nach fünf, sechs, Jahren, in denen Winkler nie wieder Gast war, werden die Belästigungen zwar weniger, aber sie hören nicht auf.
Winkler lebte über 30 Jahre ganz in der Nähe von Pomettis Cuore Rosso. Er und seine Eltern, seine Schwester und seine Großmutter teilen sich den Hof in Altschauerberg mit Hunden, Katzen, Hühnern. Dann stirbt sein Vater. Krebs. Mutter und Schwester verlassen bald das Haus, im Streit, wie er erzählt. Winkler ist ab da alleine mit seiner bettlägerigen Großmutter, die er irgendwann in ein Heim gibt. Zurück bleibt der Drachenlord.
Videos eines „Chaoten“
Seine Videos drehen sich um Musik und Videospiele. Der Inhalt bewegt sich irgendwo zwischen belanglos und befremdlich, er redet viel, schweift ab, widerspricht sich, unterbricht sich, verwirrt mit sexuellen Anspielungen und schrägen Vergleichen. Er weiß um seine Schwächen, er sei ein „Chaot“.
Nach zwei Jahren, im November 2013, hat er 50 Abonnenten und die ersten Kritiker. Sie machen sich lustig über seine unbedarfte, unbeholfene Art. Einigen gefällt nicht, wie er über Musik oder Frauen redet. Er hat einen ausgeprägten fränkischen Dialekt und ist stark übergewichtig – Angriffsflächen, die seine Gegner gerne ausnutzen. „Metal Leute“, die Begrüßungsformel am Anfang seiner Videos, wird unter den Hatern zu „Meddl Loide“. Ein Grußwort für Eingeweihte. Der Drachenlord versucht zu kontern. „Dass ich jetzt Hater hab‘, bedeutet ja, ich hab‘ alles richtig gemacht, mein Kanal fängt an, groß zu werden“, sagt er 2013 in einem Interview auf Youtube.
Mobbing auf dem Schulhof
Winkler war auf der Sonderschule. Er weiß, was Mobbing ist. Er war ein Einzelgänger, zog sich mit Kopfhörern allein auf den Pausenhof zurück. Die anderen verhöhnten ihn mit gebührendem Abstand, „die wussten, wenn ich einen erwisch‘, dann ist er Matsch“. Weil er schließlich doch einen Mitschüler durch die Gegend schleudert, wird er zum Psychologen geschickt, warum, weiß er nicht mehr genau, um was es in den Sitzungen ging, auch nicht. Er weint viel, mit 13 hat er Suizidgedanken.
Nach der Schule ergattert er einen Job bei einer Firma für Autoteile, erzählt er, als die verkauft wird, kommt er bei einer Zeitarbeitsfirma unter. Er arbeitet bei der Schokoladenfabrik Piasten, bei Playmobil, in einem Sägewerk, im Lager. Neben seinen Youtube-Videos hat er mehrere Webseiten und ein eigenes Forum. Damit fängt der Ärger an.
„Es gab eine Gruppe von Leuten von einem nationalsozialistischen Black Metal Forum, also NSBM. Die kamen auf mein Forum rüber und haben angefangen, bei mir Stress zu machen und von mir Sachen zu leaken.“ Frauen animierten ihn, Nacktbilder zu schicken, die landeten dann öffentlich im Netz. Auch ein Portrait seiner Schwester sei aufgetaucht, erinnert er sich, zusammen mit Vergewaltigungsfantasien. Außerdem gab es wohl einen Anruf, eine verzerrte Stimme drohte der Schwester am Telefon. „Da ist mir erstmal der Hut hochgegangen.“ Er setzt sich vor seine Kamera und schreit mit wutverzerrtem Gesicht eine Verteidigungsrede hinein. Die Leute sollen zu ihm kommen, er würde die Scheiße aus ihnen rausprügeln. Er nennt seine Adresse. Er lädt das Video hoch. Er löscht es wieder. Das war 2014.
Kakerlaken und Spinnen in der Küche
Eine Zeit lang passiert nicht viel. Doch bald sind es nicht mehr nur gehässige Nachrichten in Foren und Kommentarspalten, die Leute werfen nun auch analog mit Schmutz. Winkler ist auf einem Metal-Festival, Summer Breeze, während zuhause in Altschauerberg jemand Bauschaum an seinem Haus verteilt. In der Küche landen Boxen mit Spinnen und Kakerlaken. Hin und wieder stehen Menschen vor seinem Grundstück, die er nicht kennt, er bekommt Pakete, die er nicht bestellt hat, und dann fangen einige damit an, sich zu filmen, während sie ihm einen „Besuch“ abstatten. Sie werfen Böller und Eier, sie provozieren ihn, er lässt sich provozieren, er schreit herum, sie lachen, er schreit lauter. Es soll ein neuer Trend werden. Sie nennen es das Drachengame.
Zunächst sind es Leute aus seinem Umfeld, die Winkler erniedrigen. Er kennt sie aus Chats, teilweise auch persönlich. Bald werden aber auch Fremde auf ihn aufmerksam. Eines nachts fährt die Feuerwehr in Altschauerberg ein, alarmiert zu einem Großbrand, den es nie gab. Es ist der erste Fall von Swatting in Deutschland, vorsätzlich falscher Alarm. Doch auch begründete Einsätze häufen sich, die Polizei ist bald Dauergast, sie kommt wegen Ruhestörungen, Hausfriedensbruch,
Beleidigungen. Mal alarmieren die Nachbarn die Polizei, immer öfter ist es Winkler selbst. Die Brisanz der Lage schätzt er offenbar trotzdem nicht richtig ein. Mehrmals lädt er selbst zu Posterverkäufen vor seinem Haus ein, auch hier kommt es zu Auseinandersetzungen.
„Führt dazu, dass man andere Aufgaben vernachlässigt“
Neben den Anwohnern trägt die Polizei die Hauptlast des Drachengames. Bei der Polizeiinspektion in Neustadt/Aisch, die auch für Winklers Wohnort Altschauerberg zuständig ist, gehen nach jedem neuen Video von ihm Anzeigen, Mails und Nachrichten über Social-Media-Plattformen ein. Für die kleine Dienststelle mit etwa 50 Beamten eine unglaubliche Belastung. Das Polizeipräsidium in Mittelfranken schickt zwar immer wieder die Reiterstaffel oder Unterstützungskräfte, im Alltag sind die Neustädter aber auf sich allein gestellt. „Das führt schon dazu, dass man andere Aufgaben vernachlässigen muss“, sagt Leiter Siegfried Archut. An manchen Tagen machen die Einsätze in Altschauerberg 20 Prozent der Arbeit aus, zehn Einsätze pro Tag sind keine Seltenheit. Da bleibt keine Zeit für Einbruchsprävention.
Was der Drachenlord heraufbeschworen hat, ist ein Extrem, aber kein Einzelfall. Es gibt auch andere, die verfolgt und bloßgestellt werden.
Da ist der Youtuber Tanzverbot, etwas pummelig, Zahnlücke, der seine Zuschauer anfangs mit Wutausbrüchen vor der Kamera gegen sich aufbringt. 2017 findet jemand Adresse und Handynummer heraus, er wird mit Pizzalieferungen bombardiert, Unbekannte klingeln Sturm. Einmal bricht die Feuerwehr wegen eines erfundenen Notfalls seine Tür auf.
Da ist Aline Bachmann, Influencerin, viel Make-up, viele Follower. Hater fluten ihre Livestreams mit Hasskommentaren, beleidigen sie und ihre Familie, schicken ihr die Polizei nach Hause. Mimon Baraka, ein hagerer Berliner mit wirrem Haar, der auf Youtube nur eine Hand voll Abonnenten hat, wird beleidigt, verfolgt, Hassnachrichten und gefälschte Post von öffentlichen Stellen inklusive.
Hassmails und massenhafte Pizzabestellungen
Aber auch außerhalb der Netzwelt zieht der Hass Kreise. Da ist die Richterin, die Winkler am Amtsgericht Neustadt/Aisch verurteilt hat. Die Emskirchener Bürgermeisterin, die auch für Altschauerberg zuständig ist. Autohäuser, Restaurants, Hotels, die mit Winkler Geschäfte machen. Sie bekommen Hassmails, Pizzalieferungen oder gefälschte Paketbestellungen auf ihren Namen, werden mit Scherzanrufen und schlechten Online- Bewertungen zermürbt. Lieferdienste bleiben auf ihren Kosten sitzen. Wer mit Winkler in Kontakt kommt, zieht eine Armada von anonymen Internettrollen an.
In Bayern gibt es 22 Sonderdezernate, in denen sich spezialisierte Staatsanwälte mit Hasskriminalität im Netz beschäftigen. Koordiniert werden sie von einem Hate-Speech- Beauftragten, einem Oberstaatsanwalt, der bei der der Bayerischen Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) angesiedelt ist. Die Ermittler versuchen, den Tätern ein Gesicht zu geben.
2016 wird der Mann, der die Feuerwehr zu Winklers Haus in Altschauerberg geschickt hat, zu einer Haftstrafe verurteilt. Er gehörte zu einer Chaotengruppe, die sich regelmäßig via Teamspeak im Netz traf, um „Scheiße zu bauen“, wie ein Zeuge es nennt. Dazu gehören die gefälschten Notrufe, wer nicht aus der Gruppe fliegen will, muss regelmäßig erfundene Brände oder Amokläufe melden. Dazu kommen Cybermobbing, Kreditkartenbetrug, Volksverhetzung. Verschwunden sind solche Gruppen nach der Verurteilung nicht.
In Chatgruppen wird das nächste Opfer auserkoren
Auch heute verabreden sich Leute online zu Hass-Raids, fluten Chats oder Livestreams mit Kommentaren, leaken Adressen.
Kollektive wie die NWO oder NRR treffen sich dafür auf Telegram oder Discord, einer Art Gemeinschaftsraum im Netz. Unter den Mitgliedern geht es nicht unbedingt nett zu, in den Chatgruppen kann man mitlesen, wie sie Ehemalige hochgehen lassen oder sich neue Masken, so nennen sie ihre Opfer, aussuchen. Es ist schwer nachzuvollziehen, wer dazu gehört, wer Trittbrettfahrer ist oder ob die NWO nur ein Internetmythos ist. Aber die nächste Hasswelle rollt bestimmt.
Wenn man Hater fragt, was denn nun so schlimm an den Videos des Drachenlord sei, muss man Zeit einplanen. Sie erklären wortreich ihr Engagement und dessen Wichtigkeit, listen akribisch Winklers Vergehen auf: Alkoholkonsum vor der Kamera, anzügliche und abwertende Bemerkungen gegenüber Frauen, Beschimpfungen, Drohungen, Verlinkungen auf eigene Porno-Videos. Vieles davon stimmt, in einigen Fällen wurden Winklers Videos deswegen gelöscht. Aber auf den einen, großen Vorwurf, der die ganze Schlammschlacht begründet, wartet man vergebens.
Warum also das Ganze? „Die Gründe, warum Menschen zu Tätern werden, sind vielfältig“, sagt Josephine Schmitt. Die Medienpsychologin kennt die Drachenlord-Hater nicht persönlich, aber sie forscht zu Hassrede im Netz. Und da gibt es Muster. Es sind öfter Männer als Frauen. Viele wollen Macht ausüben, andere haben einfach Spaß am Beleidigen und Quälen. Man fühlt sich zugehörig, bekommt Anerkennung. „Die Gruppenidentität wird gestärkt und positiv besetzt, während das Opfer und sein Handeln abgewertet werden.“ Wir gut, Drachenlord böse. Studien wiesen darauf hin, dass Menschen eher zu Opfern werden, die im Netz viele und detailliertere
Informationen über sich Preis geben, sagt Schmitt. Das trifft auf Winkler definitiv zu. Wenn er anfängt zu reden, erzählt er eigentlich alles, egal ob eine Kamera läuft oder nicht.
Gefühl von Distanz
Eine weitere Besonderheit von Hass im Netz: „Es braucht in der Regel keinen großen Aufwand, um theoretisch viele Menschen zu erreichen, jemanden zu beleidigen“, sagt Schmitt, die am Center for Advanced Internet Studies (CAIS) forscht. Gleichzeitig entstehe ein Gefühl von Distanz. Das Internet könne die Illusion erzeugen, dass das eigene Verhalten keine problematischen Konsequenzen habe. Auch, weil man diese oft nicht sehe. Wenn Winkler nicht gerade einen Zusammenbruch in einem Livestream bekommt, bleibt sein Leiden unter dem Radar.
Tatsächlich betonen viele Hater, dass sie ja eher Zuschauer seien, Straftaten ablehnten, Winkler selbst nie „besucht“ hätten. Man nennt das den Bystander-Effekt. „Je mehr Personen in der Community sind, desto weniger verantwortlich fühlen sich Personen, einzugreifen und dem Opfer zu helfen“, sagt Schmitt. Paradoxerweise haben die meisten Angst, selbst Opfer zu werden. Das passiert immer wieder, auch Hater werden gehasst.
Einige, die den Drachenlord schon lange verfolgen, sagen, es sei mit den Jahren schlimmer geworden. Nicht alle heißen den Krawalltourismus zu seinem Haus gut. Die Szene ist heterogen. Akademiker treffen auf Arbeitslose, Familienväter auf Minderjährige. Manche leben im Ausland. Sie vernetzen sich auf Facebook und Twitter, in Telegram-Chatgruppen. Die größte hat inzwischen 40.000 Mitglieder. Neulinge werden lvl 0er genannt, für Level 0, wie bei einem Videospiel. Für den Einstieg ins Game werden sie auf die FAQ hingewiesen, das Drachiv, die Drachenchronik.
Was sie eint, ist die Idee, eine Art Bürgerpflicht zu erfüllen, wenn sie Winkler fertigmachen. Irgendwann sei alles erlaubt, was helfe. Youtube, Behörden, Polizei und Justiz hätten versagt, ein „Hassprediger“ wie er dürfe keine Videos machen, sagt einer, und schon gar nicht damit Geld verdienen. Er könne auf Youtube machen, was er will, weil er Klicks bringe. Regelmäßig melden sie seine Inhalte, weil diese angeblich gegen die Richtlinien verstoßen. Youtube sagt dazu nur, dass die Gemeinschaftsrichtlinien für alle gleich angewendet werden. Der Kanal des Drachenlord habe „in seiner Historie bereits verschiedene Disziplinarmaßnahmen erhalten“, erfülle aber momentan die Vorgaben. Die Hater macht das wahnsinnig.
Es gibt Möglichkeiten, die Drachenlord-Kritiker in die Schranken zu weisen. Eine „nachdrückliche Strafverfolgung“ sei ein „effektives Mittel zur Einschränkung solcher Hassgruppen“, heißt es von der Generalstaatsanwaltschaft in München. Es gibt Zahlen, die Mut machen: Bei Verfahren aus dem Bereich der Hasskriminalität würden 90 Prozent der Beschuldigten, die sich auf sozialen Plattformen wie Facebook, Instagram und Youtube aufhalten, auch identifiziert, heißt es. Ein erster Schritt in Richtung erfolgreicher Strafverfolgung.
Bei den Betroffenen kommt das nicht unbedingt so an. Winkler hat Anzeige um Anzeige gestellt, verurteilt wurde bisher nur eine Handvoll seiner Gegner. Bei der Bayerischen Landeszentrale für Neue Medien (BLM) gingen 2019 zahlreiche Beleidigungen aus der Hater-Szene ein. Alle Verfahren dazu liefen ins Leere, weil die Täter nicht ermittelt werden konnten, wie die die BLM auf Nachfrage mitteilt. Der Grund für die Aufregung war ein Zwangsgeld gegen Winkler, das die Behörde nach dem Geschmack der Hater nicht schnell genug vollstreckt hatte. Der Drachenlord hatte ohne Genehmigung auf der Plattform Younow Livestreams verbreitet.
Hunderte Drachenlord-Hater ziehen beim „Schanzenfest“ durch Altschauerberg
Im August 2018 eskaliert schließlich die Situation. Etwa 800 Hater treffen sich an einem Wochenende am Ufer der Mittleren Aurach, sie wollen zur „Drachenschanze“ ziehen, wie sie Winklers Anwesen nennen, ihn „das Fürchten lehren“. Die Polizei ist vor Ort, Einsatzkräfte des USK werden von einem Fußballspiel in der Region abkommandiert, das Landratsamt hat ein Versammlungsverbot ausgesprochen. Viele hindert das trotzdem nicht daran, grölend durch das Dorf zu ziehen. Die Anwohner sind zu dieser Zeit bereits mit den Nerven am Ende.
Es gibt Versuche, die Situation zu befrieden. Die Altschauerberger wenden sich an die Gemeinde, die Polizei, das Innenministerium. Mehrere Parteien versuchen, selbst mit Winkler zu sprechen. Doch Beratungsangebote laufen ins Leere, beim Drachenlord bleibt vor allem hängen, dass man ihn dazu bringen wolle, seine Youtube-Karriere zu beenden.
Sie klettern auf Balkone und vermüllen die Gegend
Am Ende hilft alles nichts, stattdessen werden die Hater immer respektloser. Sie laufen über Grundstücke, klettern auf Balkone, zündeln und vermüllen die Gegend. Das Landratsamt erlässt mehrere Allgemeinverfügungen, die Menschenansammlungen verbieten, Pyrotechnik und Lärmbelästigung untersagen. Das soll abschrecken, die Polizei habe so leichter durchgreifen können, sagt Bürgermeisterin Sandra Winkelspecht.
In diese Gemengelage fällt eine Entscheidung, die zumindest für Altschauerberg die Wende bringt. Schon mehrmals hatte die Gemeinde angeboten, Winklers Grundstück abzukaufen. 2021 stimmt er schließlich zu. Das Datum des Auszugs wird einvernehmlich geregelt, an einem Montag im Februar ist er plötzlich weg. Das Dorf atmet auf, auch wenn immer noch Besucher kommen.
Sie wollen sich ein Stück von der „Schanze“ sichern, ziehen filmend durch das halbleere Haus, lassen persönliche Gegenstände mitgehen. Auf Ebay taucht ein Inserat für einen Stein aus der Fassade auf, 39 Euro, keine Versandkosten. Dann wird Winklers Wohnhaus abgerissen, auch wenn sich zunächst kein Unternehmen für das Vorhaben findet – aus Angst vor den Hatern.
Zurück bleibt Erleichterung. Und Ratlosigkeit. Manche Anwohner fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Bürgermeisterin Winkelspecht sagt, sie habe Winkler als offen für Gespräche erlebt, er sei immer sehr höflich gewesen. Auch Polizei, Landratsamt und Innenministerium seien immer ansprechbar gewesen. Aber alle fühlten sich machtlos.
Dabei wären Lösungen bitter nötig. Denn kaum hat der Drachenlord sein Haus verlassen, wird aus dem Game eine Hetzjagd.
Hater kontrollieren Webcams, klappern Hotels ab
Wenn man in diesen Tagen die Telegram-Kanäle verfolgt, auf denen sich die Hater austauschen, fühlt man sich an einen Spionage-Thriller erinnert. Ein Krimi in Fäkalsprache und Slang, den die Hater entwickelt haben. „Oger“ oder „Wongl“ für den Drachenlord, „Mulle“ für Frau. Winkler fährt mit einem blauen Pickup, den er erst kurz zuvor gekauft hat, quer durch die Republik, heute Bremerhaven, morgen Bodensee. Und die Hater folgen ihm. Sie kontrollieren Webcams, fahren zig Parkplätze an, klappern Hotels ab. Es gibt eine eigene Karte mit den neuesten Sichtungen und Verfolgungsjagden auf der Autobahn, natürlich alles auf Video. Die Trollarmee läuft zur Höchstform auf. Winkler wird aus Hotels vertrieben, Anrufer terrorisieren die Rezeptionisten, tauschen auf Google die Fotos der Zimmer gegen Bilder von der Schanze, schreiben schlechte Bewertungen.
Winkler kommt schließlich bei seiner neuen Freundin in Dortmund unter. Er hat extra die Kennzeichen an seinem Ford Ranger abgenommen. Doch es dauert nur wenige Stunden, bis auch hier zig Leute vor der Haustür stehen.
Kurz sieht es so aus, als ob die Stadt zum zweiten Altschauerberg wird. Die Polizei wendet sich hilfesuchend an die Kollegen in Neustadt. Winklers Freundin, mit der er sich kurz darauf per Youtube-Video verlobt, gerät ebenfalls in den Fokus, nach ein paar Tagen sind sämtliche persönliche Daten, Arbeitgeber, Adressen im Netz zu finden. Die Beziehung hält nicht lange. Irgendwann schafft es Winkler, wieder unterzutauchen.
Als die Dose Energy-Drink leer ist und Winkler über seine aktuelle Situation spricht, sind drei Stunden vergangen. Er hat bisher ausführlich und offen geantwortet, ist freundlich, fast liebenswürdig. Doch jetzt gerät das Gespräch an einen schwierigen Punkt. Es geht darum, was er tun kann, um die Situation zu verbessern. Er verstehe nicht, warum „der Staat“ nicht eingreife. „Ich sag´s mal so, wenn man versucht hätte, mir zu helfen, einen großen Zaun ums Grundstück zu ziehen, dass man es blickdicht macht, vielleicht vorübergehend ein privater Sicherheitsdienst, der sich um das Grundstück und um das Dorf kümmert – ja, das kostet Kohle, aber das wäre doch billiger gewesen, als da jeden Tag die Polizei hinzuschicken.“
Warum er denn keine anderen Videos mache, sondern fast immer über die Hater rede? „Das Problem ist, dass ich inzwischen fast keinerlei Ideen mehr für Content habe.“ Er könne keine Videos von Festivals machen, weil er nicht auf Festivals gehen könne. Nicht auf Konzerte, nicht ins Kino, nicht einmal spazieren. Und die Gaming-Streams? „Das Problem ist, dass meine Gaming-Sachen nicht besonders beliebt sind. Wenn ich auf ein normales Video 5000 Aufrufe habe, habe ich auf ein Gaming-Video vielleicht 1500.“
Es ist möglich, die Trolle weiterziehen zu lassen. Tanzverbot, der Youtuber mit den Wutausbrüchen, hat das geschafft. Doch er musste dafür seine Wohnung wechseln. Das kann man seinen Videos entnehmen, auf Anfragen antwortet er nicht. Der Drachenlord kennt Tanzverbot, die beiden haben Filme zusammen aufgenommen. Inzwischen sind sie schlecht aufeinander zu sprechen. Aber es scheint Winkler auch gar nicht zu interessieren, wie der andere Youtuber die Kurve gekriegt hat. Er will einfach nur seine Ruhe haben. Aber er will auch nicht aufgeben.
Youtube finanziert Rainer Winklers Leben
An manchen Tagen klingelt Winklers Handy fast pausenlos. Doch statt seine Nummer zu wechseln, blockiert er lieber in einer Stunde 100 Leute. Youtube finanziert sein Leben, in gewisser Weise hält ihn der Hass über Wasser. Zwischen 2000 und 8000 Euro verdient er im Monat mit den Videos, mit Werbung, Bezahl-Mitgliedschaften für seinen Kanal, Spenden. „Meinen Youtube-Kanal einstampfen ist keine Option, dann verdiene ich kein Geld mehr und dann bin ich im Arsch.“
Doch am Ende ist es wohl ganz simpel: „Ich bin nur ein Spinner, der Videos macht“, sagt Winkler. Solange er sich nicht von einem Haufen fanatischer Hater davon abhalten lassen will, wird der Hass weiter den Drachenlord treffen – und alle, die zufällig in der Schusslinie.
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